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Wie kann Pflege in Zukunft aussehen?

InterviewLesezeit: 4:00 min.
Krankenschwester auf einer Intensivstation

Bildnachweis: © stock.adobe.com / Vadim

Die Pflege ist in der Krise, heißt es. Aber wo genau liegen die Herausforderungen? Was muss sich ändern? Und wie kann eine gute Pflege in Zukunft aussehen? Prof. Dr. Michael Isfort vom Deutschen Institut für angewandte Pflegeforschung e.V. spricht im Interview nicht nur über die Probleme, sondern vor allem auch über die Chancen von Pflege, über die Attraktivität des Pflegeberufs und darüber, wie man Pflegebedürftigkeit vorbeugt.

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Der Experte zum Thema

Prof. Dr. Michael Isfort

Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung e.V.

Was sind aktuell die größten Herausforderungen in der Pflege?

Redaktion

Das kommt darauf an, welchen Sektor wir uns anschauen. In der ambulanten Pflege bereitet vor allem der Fachkräftemangel Sorge: zahlreiche Anfragen zur häuslichen Versorgung können nicht oder nicht mehr zeitnah übernommen werden. In den Krankenhäusern haben wir die Problematik, dass Pflegekräfte sagen: ich kann das, was ich gelernt habe, nicht umsetzen. Viele Pflegekräfte setzt dieser Widerspruch unter enormen moralischen Stress. Man möchte vielleicht mit dem Patienten Gehtraining machen, möchte mobilisieren oder im Fall einer Demenz genau beobachten, wo der Betroffene steht, um ihm Sicherheit und Orientierung vermitteln zu können. Man weiß, wie wichtig solche Dinge sind. Aber die Personalausstattung und Arbeitsverdichtung erlauben die Anwendung des Wissens nicht. Das ist für Pflegende häufig sehr frustrierend.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Und diese Situation wird immer schlimmer?

Redaktion

Tatsächlich gehen wir davon aus, dass wir in den Kliniken bald erste Zeichen einer Besserung sehen werden. Hintergrund ist eine Initiative des ehemaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn. Es wurden Untergrenzen zur Personalbesetzung formuliert, die eingehalten werden müssen. So wurde zum Beispiel festgelegt, dass auf einer Intensivstation eine Pflegekraft im Tagdienst nur noch zwei Patienten versorgen soll – anstatt vorher drei bis vier. Neue Pflegestellen werden nun zusätzlich finanziert. Damit lohnt es sich für Krankenhäuser nicht mehr, am Pflegepersonal zu sparen. Zwischen 2018 und 2020 sind rund 30.000 neue Pflegestellen im Pflegedienst in den Krankenhäusern entstanden. Das soll für Entspannung sorgen.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Tut es das auch?

Redaktion

Aktuell wirken hohe Krankenstände beim Personal und die aufwendigen Quarantänisierungen von infizierten Patientinnen und Patienten noch nach, sodass für viele Pflegende subjektiv noch keine starke Entlastung bemerkbar wird. Doch ich bin zuversichtlich, dass die Kombination aus Untergrenzen der Versorgung und einer zusätzlichen Finanzierung der Pflege mittelfristig wirken wird. An der Motivation der Pflegekräfte liegt es jedenfalls definitiv nicht.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Aber man hört das doch immer wieder: Tausende verlassen den Beruf…

Redaktion

Das können wir so nicht bestätigen, im Gegenteil. Wir sehen seit Jahren eine beständig wachsende Zahl an Mitarbeitenden in der Pflege. Auch in der Pandemie hat sich die Zahl der Beschäftigten in diesem Bereich in allen Sektoren positiv entwickelt. Das Bild, dass die Medien in den letzten Jahren verbreitet haben, ist daher falsch. Es gibt keine Zunahme an Arbeitslosigkeit, es gibt keinen kollektiven Ausstieg aus dem Beruf. Was aber stiegt ist die Teilzeitbeschäftigung, also die Reduzierung der Arbeitszeit in der Versorgung, so man es sich ökonomisch leisten kann. Das ist das eigentliche Bild eines „Pflexits“, eines Ausstiegs. Insgesamt aber wurde und wird leider sehr oft die Problemhaftigkeit des Pflegeberufs gezeigt. Wir befragen Pflegekräfte regelmäßig zu ihrer Situation und stellen fest: Es gibt einen Unterschied zwischen der Berufs- und der Arbeitsplatzzufriedenheit. Ich kann sagen: ich liebe meinen Beruf, in der Sache ist das genau, was ich tun will. Ein Großteil der Pflegekräfte tut das. Und gleichzeitig kann ich feststellen, dass ich vor Ort in meinem Betrieb wenig Wertschätzung erfahre und oft an Grenzen komme.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Wie könnten Pflegeberufe attraktiver werden?

Redaktion

Sie sind attraktiv! Noch nie haben so viele junge Menschen einen Pflegeberuf gewählt wie aktuell. In einer krisengebeutelten Zeit scheint das Bedürfnis nach Berufen, die sinnstiftend und auch krisensicher sind, besonders groß, so mein Eindruck. Aber das ist nicht alles. Pflegeberufe sind auch zukunftssicher. Dazu kommt die enorme Bandbreite an möglichen Tätigkeiten und Einsatzbereichen. Wie komplex und vielfältig Pflegeberufe sind, ist leider wenig bekannt. Ich kann als Pflegekraft apparategestützt auf einer Intensivstation arbeiten, ich kann in einem Dialysezentrum ganz nah an den Patienten sein, die jeden zweiten Tag für mehrere Stunden kommen, ich kann Menschen am Lebensende bei der Gestaltung ihres Alltags helfen, oder aber – und das alles mit der gleichen Ausbildung – mich in der präventiven Arbeit mit jungen Menschen mit Essstörungen engagieren. Welcher Beruf bietet so viele Nischen, so viele Möglichkeiten? Auch die Karrieremöglichkeiten werden unterschätzt. Was viele nicht wissen: In der Pflege kann man sich weiterbilden, weiterqualifizieren. Seit rund 20 Jahren kann man Pflege auch studieren.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Wie unterstützt die AOK bei Pflegebedürftigkeit?

Die AOK bietet zahlreiche Pflegeleistungen für Pflegebedürftige und deren Angehörige. Dazu gehören unter anderem die Feststellung der Pflegebedürftigkeit, Leistungen für die ambulante Pflege zu Hause oder auch Pflegekurse und Coachings für pflegende Angehörige.

Pflegebedürftige und ihre Angehörigen haben außerdem in vielen Fällen Anspruch individuelle Beratung und Hilfestellung durch einen Pflegeberater. Pflegeberater erstellen einen individuellen Versorgungsplan, unterstützen bei der Erledigung von Formalitäten und nehmen Kontakt zu Personen und Einrichtungen auf, die an der Versorgung beteiligt sind. Die Pflegeberatung kann persönlich, telefonisch oder auch in einer AOK-Geschäftsstelle stattfinden. Weitere Informationen finden Sie hier: Pflegeleistungen im Überblick.

Sie haben gerade die präventive Arbeit angesprochen. Das klingt neu.

Redaktion

In vielen Ländern ist die Stärkung von Gesundheitskompetenz schon länger Aufgabe von Pflegenden. Seit einiger Zeit gibt es auch in Deutschland entsprechende Pilotprojekte. Schulgesundheitspflegende etwa, die sich mit den zunehmenden gesundheitlichen und psychischen Problemlagen von Schülerinnen und Schülern beschäftigen, das Thema Gesundheit in die Schulen tragen und vor Ort Angebote zu machen. Mehrere Bundesländer beginnen außerdem, die Pflege bürgernäher zu denken. Wir sprechen von Bring-Strukturen statt Komm-Strukturen: die Leute werden zu Hause aufgesucht, oft noch vor dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit. Ich halte das für sehr sinnvoll. Pflegebedürftigkeit fällt schließlich überwiegend nicht vom Himmel.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Sondern?

Redaktion

Pflegebedürftigkeit ist oftmals ein schleichender Prozess. Wir wissen zum Beispiel, dass mehrmalige Krankenhausaufenthalte innerhalb eines Jahres ein Hinweis auf eine entstehende Pflegebedürftigkeit sein können. Wenn frühzeitig gehandelt wird, kann eine Pflegebedürftigkeit oft noch abgewendet oder hinausgezögert werden. Ich denke da zum Beispiel an die Frau, deren Mann gestorben war. Sie hatte keinen Führerschein, wohnte abseits und hat kaum noch etwas unternommen: Sie traf keine Freunde mehr, isolierte sich zunehmend, ging nicht mal mehr regelmäßig zum Hausarzt, sodass sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte. Eine Pflegekraft eines ambulanten Dienstes hat dann, ganz banal, das Busfahren mit ihr geübt. Bis hin zu: so löse ich eine Fahrkarte. Die Frau wurde wieder mobil und aktiver – eine wesentliche Bedingung zur Erhaltung der Alltagsselbstständigkeit.

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Eine mögliche Pflegebedürftigkeit war bei der Frau dann also kein Thema mehr?

Redaktion

Oh doch, es ist sehr wichtig, weiterzudenken. Schauen Sie, die meisten Menschen planen ihren Urlaub dezidierter als die Frage, was passieren soll, wenn sie pflegebedürftig werden. Das ist ein Fehler, Versorgungsmöglichkeiten und Netzwerke gehören im Vorfeld geplant und ausgebaut. Das Risiko, pflegebedürftig zu werden, wird heute zwar oft erst ab 75 sichtbar. Weniger als ein Viertel der Menschen sind früher pflegebedürftig – und da sind junge Menschen, bei denen dies nach Unfällen der Fall ist, miteingeschlossen. Aber wenn die Pflegebedürftigkeit eines Tages eintritt, mangelt es vielfach an Möglichkeiten, die unter Einbindung einer häuslichen Prävention vielleicht gegeben wären. Die genannten Projekte helfen bei einem Umdenken: wir müssen Pflegebedürftigkeit früher denken. Und wir sollten das Thema nicht immer nur von Krankheit aus denken.

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Vater und Tochter

Praxisratgeber Pflege

Hilfe für pflegende Angehörige.

Von woher dann?

Redaktion

Wie kann eine Person ihr Leben so selbstständig wie möglich gestalten? Wie kann die Beinkraft erhalten und gesteigert werden? Das ist wichtig, um Stürze zu vermeiden, die eine zentrale Bedrohung bei Hochaltrigkeit darstellen. Nicht selten sind Sturzfolgen, wie beispielsweise ein Oberschenkelhalsbruch der Eintritt in eine Pflegebedürftigkeit oder aber Sturzfolgen begrenzen die Möglichkeiten, in der eigenen Wohnung im dritten Stock wohnen zu bleiben, weil die Treppen nicht bewältigt werden können. Oft lässt sich Pflegebedürftigkeit durch Aktivität und Training verhindern oder zumindest hinauszögern. Gefährdende Muster zu durchbrechen, ist eine wichtige Aufgabe von Pflege. Die Sportwissenschaft zeigt eindrücklich, was möglich ist. Es gibt 80-Jährige, die haben dank eines regelmäßigen Trainings deutlich mehr Muskeln als mit 60. Wachsame Pflegekräfte können wichtige Hinweise geben und beratend tätig werden.

Prof. Dr. Michael Isfort

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„Bewegen Sie sich!“ Etwa so?

Redaktion

Zum Beispiel. Oder auch: Trinken Sie regelmäßig. Die Klimakatastrophe wird auch Auswirkungen auf die gesundheitliche Versorgung haben. Es wird wichtiger werden, Menschen zu erreichen und mit ihnen daran zu arbeiten, wie sie Gefährdungen wie zum Beispiel Hitzeperioden, gut überstehen können. Natürlich braucht es für die Begleitung und Umsetzung später nicht immer eine Fachkraft. Auch die Vernetzung zum Ehrenamt wird in Zukunft eine große Aufgabe der Pflege sein. Die Einschätzung oder die Erhebung von Risikoprofilen auf vielen Ebenen der Alltagsbewältigung und die Planung von Maßnahmen zum Erhalt der Selbstständigkeit ist eine pflegerische Aufgabe.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Gutes Stichwort. Wie wird sich der Pflegeberuf in Zukunft verändern?

Redaktion

Pflege muss und wird insgesamt vielfältiger gedacht werden. Wir sehen ja, wie das Gesundheitssystem immer mehr an seine Grenzen stößt. Und dass gerade im ländlichen Bereich die hausärztliche Versorgung nicht aufrechterhalten werden kann, ist seit langem bekannt. Mehr Weitblick im Zusammenhang mit Pflege hilft dabei, die vorhandenen Ressourcen klug zu nutzen. In 20 Jahren sehe ich beispielsweise die Notfallambulanzen in Krankenhäusern weitgehend von Pflegekräften geleitet. Schon früher werden regionale Gesundheitszentren entstehen, an denen Pflegekräfte arbeiten und entscheiden, ob überhaupt ein Arzt konsultiert werden muss oder nicht – der aktuelle Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach sprach neulich von Gesundheitskiosken. Wir begrüßen diese Entwicklung. Wie gesagt: Das Wissen ist da, die Motivation ist da und immer mehr Menschen wollen im Bereich der Pflege arbeiten. Besser könnten die Voraussetzungen eigentlich nicht sein. Man muss sie aber konsequent und klug umsetzen.

Prof. Dr. Michael Isfort

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Seit Jahren leiden Pflegeeinrichtungen unter Personalengpässen. Doch im Jahr 2021 haben die Ausfallzeiten von Pflegekräften in weiten Teilen Nordrhein-Westfalens und in Hamburg eine neue Dimension erreicht, wie der „Branchenbericht Pflege“ des Instituts für Betriebliche Gesundheitsförderung (BGF) aufzeigt. „Die Beschäftigten in der Pflege sind überdurchschnittlich hohen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt. Daher müssen in dieser Branche vor allem gute Arbeitsbedingungen im Fokus stehen. Neben der materiellen Ausstattung und einem adäquaten Personalschlüssel sind faire Dienstpläne und eine angemessene Entlohnung Faktoren, die den Pflegeberuf attraktiver machen“, so Rolf Buchwitz, ehemaliger stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg. Weitere Informationen zum Bericht finden Sie hier.

Letzte Änderung: 19.01.2023