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Wenn (erwachsene) Kinder den Kontakt zu den Eltern abbrechen, kommt das für viele Familien wie aus dem Nichts. Die Hamburger Psychologin und Bestseller-Autorin Dr. Sandra Konrad erklärt, warum sich schmerzhafte Verhaltensweisen oft über Generationen wiederholen, wie Betroffene trotz Funkstille inneren Frieden finden können und wie eine Annäherung doch wieder funktionieren kann.
Diplom-Psychologin, Systemische Einzel-, Paar- und Familientherapeutin
Foto:Kirsten Nijhof
Kontaktabbruch in der Familie ist ein radikaler Schritt, den niemand leichtfertig geht. Wenn erwachsene Kinder den Kontakt zu ihren Eltern abbrechen, stecken meist jahrelange Verletzungen und ungelöste Konflikte dahinter. Die Entscheidung zur familiären Entfremdung fällt nach langem inneren Ringen, oft wenn die emotionale Belastung durch destruktive Beziehungsmuster unerträglich wird. Dabei leiden alle Beteiligten: Die Kinder trauern um die Familie, die sie sich gewünscht hätten. Die Eltern verstehen häufig nicht, warum ihr Kind plötzlich schweigt. Und Geschwister oder Großeltern geraten ungewollt zwischen die Fronten.
Psychologin Dr. Sandra Konrad erklärt, warum Kontaktabbrüche oft über Generationen hinweg auftreten, welche seelischen Prozesse dahinterstecken – und wie Betroffene mit dieser schmerzhaften Situation umgehen können. Denn manchmal braucht es Distanz, um später wieder zueinanderzufinden.
Frau Konrad, selbst erwachsene Menschen berichten oft, dass sie sich nicht von destruktiven Familienmustern lösen können, obwohl sie genau wissen, dass ihnen die Beziehung schadet – sei es durch ständige Grenzüberschreitungen oder etwa emotionale Erpressung. Warum sind wir so stark in familiären Bindungen gefangen – und wie kann man diese durchbrechen?
Zunächst einmal lieben Kinder ihre Eltern – sie haben ja nur eine Mutter und einen Vater. Wir werden durch unsere Eltern geprägt und erfahren von ihnen, wie Beziehungen funktionieren, im Guten wie im Schlechten. Hinzu kommt Loyalität – wir sind unseren Eltern und ihren Werten oft lange treu. Im Laufe unseres Lebens werden wir idealerweise unabhängiger und werden uns selbst letztendlich treuer als den Erwartungen oder Gesetzen der Eltern.
Es ist übrigens ein Unterschied, ob wir destruktive familiäre Muster durchbrechen oder den Kontakt zu den Eltern abbrechen. Wer sich gesund von den Eltern ablöst, kann ungesunde Muster hinter sich lassen und eine erwachsenere, bessere Beziehung zu den Eltern aufbauen. Mit klarer Kommunikation und gesunden Grenzen.
Welche Ursachen sehen Sie am häufigsten, die letztlich zum Kontaktabbruch führen?
Wenn Kinder sich über einen langen Zeitraum von den Eltern nicht gesehen, nicht gehört, nicht unterstützt oder akzeptiert fühlen, kann es zu der Entscheidung kommen, sich von den Eltern zu distanzieren. Oft kämpfen Kinder lange um die Anerkennung ihrer Eltern. Und dann – nach vielen Enttäuschungen, scheinbar unlösbaren Konflikten und Verletzungen – kann ein mitunter banaler Auslöser dazu führen, den Kontakt zu den Eltern abzubrechen.
Für die Eltern kommt der Kontaktabbruch oft aus dem Nichts heraus. Viele verstehen nicht, warum eine Lappalie eine so starke Reaktion hervorruft. Dieses Unverständnis ist für die Kinder wiederum eine Bestätigung: Die Eltern haben keine Ahnung, worunter die Kinder jahrelang gelitten haben.
Beim Kontaktabbruch auch oft zu beobachten: Wenn Familien nicht an ihrer Konfliktfähigkeit arbeiten, wiederholen sich Kontaktabbrüche über Generationen hinweg.
Nach einem Kontaktabbruch trauern viele Menschen um die Familie, die sie gerne gehabt hätten. Wie verarbeitet man diesen besonderen Verlust, und was unterscheidet diese Trauer von der Trauer um Verstorbene?
Wenn die Beziehung zu einem Elternteil sehr konflikthaft und verletzend ist, wird sowohl bei dessen Tod als auch beim Kontaktabbruch nicht nur der Verlust der realen Person, sondern auch das Ende der Hoffnung auf die ideale Mutter bzw. den idealen Vater betrauert. Während der Tod final ist und einen Schlusspunkt hinter die reale Beziehung setzt, gibt es beim Kontaktabbruch weiterhin die Möglichkeit, sich wieder anzunähern und damit sowohl die Chance auf eine bessere Beziehung, aber auch auf weitere Enttäuschungen.
Was hilft, den Verlust der Eltern nach einem Kontaktabbruch zu verarbeiten?
Wer keinen Frieden mit den realen Eltern findet, kann trotzdem Frieden im Inneren finden. Es ist wichtig, zunächst die eigenen Wunden zu versorgen, sich also selbst eine gute Mutter und ein guter Vater zu werden. Gelingt dies, sinkt die emotionale Abhängigkeit von den Eltern und somit auch die Enttäuschung, dass sie nicht die Eltern sind, die wir uns gewünscht oder die wir gebraucht hätten. Oft entsteht in diesem Reifeprozess auch ein milderer Blick auf die Eltern: Wir erkennen, dass sie uns – aufgrund ihrer eigenen Kindheitserfahrungen – bereits die besten Eltern waren, die sie sein konnten, auch wenn das für uns nicht gut genug war.
Darüber hinaus kann es trösten, sich an die Anteile der Eltern zu erinnern, die gut genug waren. Momente, in denen wir uns geborgen und geliebt gefühlt haben, vielleicht hat der Vater sich oft Zeit genommen zum Spielen, vielleicht hat die Mutter oft das Lieblingsessen gekocht. Auf diese Weise kann man innerlich Kontakt zu den guten Anteilen der Eltern halten, selbst wenn man sich in der Gegenwart für einen Kontaktabbruch entschieden hat.
Geschwister, Großeltern oder andere Verwandte geraten oft ungewollt zwischen die Fronten und sollen vermitteln oder Partei ergreifen. Welchen Rat geben Sie diesen „Mittelsmännern“, die selbst unter dem Familienkonflikt leiden, ohne direkt beteiligt zu sein?
Kontaktabbruch ist harter Tobak, der selten aus dem familiären System heraus objektiv betrachtet und erst recht nicht geheilt werden kann. Zu viele Verstrickungen bestehen zwischen den Verwandten, auch wenn alle wohlmeinend sind. Wenn Familienmitglieder unter einem Kontaktabbruch leiden, ist es ratsam, einen Profi, also eine Familientherapeutin hinzuzuziehen. Wer also vermitteln möchte, kann bei der Suche nach geeigneter therapeutischer Unterstützung helfen.
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Kontaktabbruch in Familien ist extrem belastend – aber wann wird aus einer normalen Krisensituation etwas, das therapeutische Unterstützung braucht? Welche konkreten Warnsignale sollten Betroffene bei sich selbst ernst nehmen?
Kontaktabbruch ist selten final – oft braucht es kleinere Pausen, in denen alle Beteiligten durchatmen und anschließend wieder aufeinander zugehen. Wenn aber nicht ausreichend reflektiert wurde, was zum Kontaktabbruch geführt hat, wenn die Beteiligten keine Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen und einander nicht zuhören oder noch nicht bereit sind, zu verzeihen, macht es Sinn, therapeutische Hilfe hinzuzuziehen.
In konflikthaften Beziehungen ist es oft hilfreich, gemeinsam mit einer allparteilichen Moderatorin zu sprechen, die genau zuhört, die Dynamik erklären und vermitteln kann. Mitunter suchen auch einzelne Mitglieder therapeutische Hilfe, weil sie unter dem Kontaktabbruch nachhaltig leiden.
Wie schafft man danach den Weg zurück in den Kontakt? Sowohl die Eltern als auch die Kinder, die den Kontakt abgebrochen haben?
Eine Grundvoraussetzung ist echtes Interesse aneinander. Und Selbstverantwortung zu übernehmen, also zu reflektieren: Was war mein Anteil an den Konflikten? Im weiteren Verlauf ist es wichtig, sich zu überlegen, wie die Eltern-Kind-Beziehung idealerweise gestaltet werden kann. Dazu gehört, eigene Bedürfnisse und Grenzen zu formulieren und respektvoll miteinander umzugehen. Die erste Zeit nach einem Kontaktabbruch ist oft ein Spaziergang auf dünnem Eis und es braucht viel Sensibilität und Achtsamkeit, um nicht wieder in alte, destruktive Dynamiken zu verfallen.
Dr. Sandra Konrad hat zu diesem Thema ein Buch verfasst:
Letzte Änderung: 10.10.2025
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