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Sport mit Behinderung: Edina Müllers Flucht nach vorne

ArtikelLesezeit: 3:00 min.
Edina Müller, Parakanutin, paralympische Goldmedaillengewinnerin und Sporttherapeutin am BG Klinikum Hamburg

Bildnachweis: © Matthias Buchholz / Matthias Buchholz

Edina Müller ist querschnittsgelähmt, seit sie 16 Jahre alt ist. Doch deswegen keinen Sport zu machen, war nie eine Option. Heute ist sie paralympische Goldmedaillengewinnerin in zwei verschiedenen Sportarten: 2012 gewann sie bei den Paralympics in London die Goldmedaille im Rollstuhlbasketball, 2021 in Tokio Gold im Parakanu. Als Sporttherapeutin am BG Klinikum Hamburg unterstützt sie außerdem Patienten, die nach einem Unfall eine Behinderung erworben haben. Im Interview erzählt sie, wie sie nach ihrer eigenen Diagnose die Flucht nach vorne antrat, welche Chancen Sport für behinderte Menschen bringt und was sie sich von der Parasport-Berichterstattung wünscht.

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Die Expertin zum Thema

Edina Müller

Parakanutin, paralympische Goldmedaillengewinnerin und Sporttherapeutin am
BG Klinikum Hamburg

Als Profisportlerin ist Sport heute ein wichtiger Teil Ihres Lebens. War das schon immer so?

Redaktion

Ja, tatsächlich. Ich komme aus einer sehr sportbegeisterten Familie und viele schöne Kindheitserinnerungen sind an Sport geknüpft: Während Olympia lief beispielsweise durchgehend der Fernseher, sogar während des Essens. Und wenn die Australian Open stattfanden, hat mich meine Mutter mitten in der Nacht geweckt, wir haben uns eine gemütliche Kissenburg vor dem Fernseher gebaut – und zusammen Tennis geschaut. Schon als Kind habe ich kreuz und quer alle möglichen Sportarten ausprobiert, Volleyball hat es mir dann besonders angetan. Bei meinem Unfall war ich 16 – und für mich war klar, dass ich weiter Sport machen will. Ich habe Sitzvolleyball ausprobiert, das war allerdings für meine Behinderung nicht das Richtige. Ich bin dann beim Rollstuhlbasketball hängengeblieben – und habe 2012 mit dem deutschen Team Gold geholt.

Edina Müller

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Sie sind querschnittsgelähmt, seit Sie 16 Jahre alt sind. Wie kam es dazu?

Redaktion

Ich habe als Jugendliche Volleyball gespielt und hatte schon einige Male Schmerzen im Rücken und eine taube Stelle am Bein. Das nahm jedoch niemand so richtig ernst, immerhin war ich jung und sportlich. Als ich deshalb das zweite Mal beim Einrenken war, wurde mein Rückenmark verletzt und begann zu bluten. Das Blut konnte nicht abfließen, erzeugte einen Überdruck und drückte auf die Nerven. Dies wurde zu spät erkannt. Ich bin zwar ins Krankenhaus, doch es dauerte viele Stunden, bis ich für ein MRT in die Röhre gekommen bin. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich schon nicht mehr gehen und mein Körper zeigte eine immer extremere Reaktion. So kam es schlussendlich zu einer kompletten Querschnittslähmung am zehnten und zwölften Brustwirbel.

Edina Müller

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Wie sind Sie damals damit umgegangen?

Redaktion

Die größte Unterstützung habe ich von meinen Eltern bekommen, insbesondere von meiner Mutter, die immer an meiner Seite war und auf die ich mich vollkommen verlassen konnte. Mit so jemandem im Hintergrund ist ein solcher Lebenseinschnitt viel einfacher zu verarbeiten. Es gibt nie einen guten Zeitpunkt für so eine Diagnose. Rückblickend glaube ich jedoch, dass es für mich mit 16 Jahren einfacher war, als wenn es später passiert wäre. Ich hatte in diesem Alter natürlich ganz andere Sachen und Pläne im Kopf. Ich konnte mir jedoch meinen Weg mit Behinderung auch noch besser gestalten. Als Sporttherapeutin betreue ich viele Patienten, die im Erwachsenenalter eine Behinderung erwerben – und die sich plötzlich nicht mehr frei in dem Haus bewegen können, das sie gerade gebaut haben, nicht mehr den Job ausüben können, den sie ihr Leben lang gemacht haben, oder nicht wissen, wie sie das mit der Kinderbetreuung hinbekommen sollen. So oder so tauchen plötzlich Fragen auf, auf die du nicht so einfach Antworten findest – und die musst du dir alle meist selbst zusammensuchen.

Edina Müller

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Haben Sie jemals daran gedacht, mit dem Sport aufzuhören?

Redaktion

Nein, das war nie eine Option. Ich wusste von Anfang an, dass ich mir einen Sport suchen möchte, der zu meiner Behinderung passt. Ich habe vielmehr die Flucht nach vorne angetreten und viele verschiedene Sportarten ausprobiert. So mache ich es heute immer noch. Wasserski steht als Nächstes auf meiner Liste.

Edina Müller

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Welche Chancen bringt Sport für Menschen mit Behinderung – und welche Hemmschwellen gibt es?

Redaktion

Als Sporttherapeutin ist es meine erste Intention, die Hemmschwelle bei meinen Patienten zu senken. Viele haben nach dem Erwerb einer Behinderung überhaupt keine Ahnung, was sie überhaupt noch selbst können, und trauen sich erst einmal sehr wenig zu. Sport kann ein wichtiger Schritt sein, um wieder Selbstbewusstsein zu gewinnen. Wie groß die individuelle Hemmschwelle ist, kommt auch sehr darauf an, ob du vor dem Erwerb der Behinderung schon Sport gemacht hast. Warst du vorher schon sportlich, hast du viel eher das Bedürfnis, Sport zu machen – und der Einstieg fällt dir leichter, weil du ein viel besseres Gefühl dafür hast, worauf du Lust hast. Gerade Sport im Sportverein ist unheimlich bereichernd, weil du in einer Gruppe von Gleichgesinnten zusammenkommst, die sich gegenseitig unterstützen und in der du dich nicht erklären musst. Sport schafft Verbindung. Auf der anderen Seite gibt Sport einem ein besseres Körpergefühl, körperliche Fitness und damit häufig auch mehr Selbstständigkeit im Alltag. Wenn ich Kraft habe, kann ich mich als Rollstuhlfahrerin leichter umsetzen, mich selbst vom Boden in den Rollstuhl heben oder schwierige Wege besser bewältigen.

Edina Müller

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Wie gut ist das Sportangebot für behinderte Menschen?

Redaktion

Deutschland ist ein Vereinsland – das gilt auch für den Behindertensport. Es gibt unglaublich viele Angebote und viele Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren. Die Herausforderung liegt eher darin, das Angebot zu bündeln, sodass die Menschen den Zugang finden. Es reicht oft nicht, einen Flyer herauszugeben, sondern es ist wichtig, die Leute ganz konkret an die Hand zu nehmen und Hemmschwellen abzubauen. Unterstützung gibt es zum Beispiel beim Deutschen Rollstuhl-Sportverband (DRS) oder beim Deutschen Behindertensportverband (DBS), die tolle Ansprechpartner haben und dabei helfen, die passende Sportart zu finden.

Edina Müller

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Sie selbst haben mehrfach die Sportart gewechselt und sind nun beim Kanu. Wie kam es dazu?

Redaktion

Als ich 2014 meine internationale Basketball-Karriere beendet habe, wollte ich mich stärker dem Freizeitsport widmen. Mein Partner und ich sind sehr wasseraffin, tauchen gerne und fahren schon länger Kanu. Wir planten damals eine große Donautour im Kanu. Zur gleichen Zeit startete ich einen Blog, für den ich ganz unterschiedliche Sportarten ausprobierte – Klettern oder Rennkajak zum Beispiel. Ich wollte andere Menschen mit Behinderung für Sport motivieren und dabei ganz authentisch zeigen, worin vielleicht auch die Herausforderungen liegen und dass auch ich beim Einsteigen ins wacklige Kajak mal im Wasser lande. Das mit dem Kajak hat mich so gepackt, dass ich mich beim Hamburger Kanu Club angemeldet habe. Dort habe ich meinen heutigen Trainer kennengelernt – und der Rest war eine Verkettung glücklicher Umstände. Ich habe dann sehr schnell dazugelernt, vor allem Technik, und habe ein halbes Jahr später die Qualifikation für die Nationalmannschaft geschafft.

Edina Müller

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Sie haben Freude am Ausprobieren und großen Ehrgeiz – ist das Ihr Erfolgsgeheimnis?

Redaktion

Ich habe mir in meiner Karriere schon immer so viele Informationen wie möglich von vielen unterschiedlichen Menschen geholt. Jeder hat einen anderen Ansatz, jeder vermittelt es anders. Davon habe ich schon immer viel profitiert. Mein Ehrgeiz ist, was mich tatsächlich antreibt. Ich hatte eine sehr erfolgreiche Rollstuhlbasketball-Karriere und eigentlich ging es beim Kanufahren ja um nichts. Nur so funktioniere ich nicht, ich wollte es dann eben doch schaffen! Ich hatte Lust, noch mal anzugreifen! Als dann klar war, dass Kanu 2016 zum ersten Mal als paralympische Sportart in Rio de Janeiro stattfinden wird, stand das nächste Ziel fest.

Edina Müller

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Jenseits der Paralympics bekommt Parasport nur wenig Aufmerksamkeit. Wie kann er sichtbarer gemacht werden?

Redaktion

Es muss noch viel passieren. Man hat es erst an den Europameisterschaften in München wieder gesehen: Die Wettkämpfe der Parakanuten fanden parallel zu denen der Kanuten statt, wir waren also zur gleichen Zeit am gleichen Ort. Es waren Fernsehteams der öffentlich-rechtlichen Sender vor Ort und haben einen großen Beitrag über die Kanuten gedreht, doch wir Parakanuten wurden mit keinem einzigen Wort erwähnt. Ich kam nach meinem Rennen in der sogenannten Mixed Zone raus – und keiner war da, keiner wollte ein Interview. Dabei war das eine der ersten großen inklusiven Veranstaltungen, eine gute Geschichte! Bei anderen Wettbewerben genau dasselbe. Das ist ein Teufelskreis: Wenn wir nicht gezeigt werden, interessiert sich keiner für uns. Interessiert sich keiner für uns, werden wir nicht gezeigt.

Edina Müller

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Wie gehen Sie mit dieser Wut und Enttäuschung um?

Redaktion

Ich verstehe es nicht und es frustriert mich total. Ich kann nur immer wieder versuchen, für uns einzustehen und Menschen für das Thema zu mobilisieren. Dann finden die Paralympics statt, es läuft wieder, die Leute sind begeistert und ich denke: Jetzt haben wir es geschafft! Doch beim nächsten Wettkampf ist alles wieder beim Alten. Dabei zeigen gerade die Paralympics immer wieder, dass die Parasport-Berichterstattung bei den Menschen ankommt und gesehen wird – und eben auch viel in den Köpfen der Menschen verändern kann.

Edina Müller

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Was steht als Nächstes für Sie an?

Redaktion

Im Moment stehe ich wieder vor einem Ziel: die Paralympics in Paris 2024. Danach ist noch vieles offen, denn dann wird bald mein Sohn eingeschult. Eines ist sicher: Es wird neue Projekte und neue Ziele geben.

Edina Müller

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Letzte Änderung: 27.10.2022